Tonbridge ist eine Stadt im Süden Englands und liegt ca. 45 Kilometer süd-östlich von London. Sie beherbergt rund 32000 Einwohner und- für die nächsten Monate- mich.
Viel mehr gab das Internet während meiner vorhergehenden Recherche nicht her. Abgesehen davon, dass die Stadt eine eigene Burg, Tonbridge Castle, erbaut im 11. Jahrhundert, besitzt. Somit gab es einiges zu erkunden, als ich schließlich dort ankam.
Meine Gastfamilie zeigte mir zuerst ihr zu Hause, gelegen in einer winzigen Sackgasse angrenzend an eine Hauptstraße. Das schlicht aber gemütlich eingerichtete Haus gefiel mir auf Anhieb gut, doch der Raum, der für die nächsten zehn Monate mein Schlafzimmer sein sollte, erinnerte mich viel mehr an eine Besenkammer oder einen Kleiderschrank. Letzterer passt noch nicht einmal hinein. Ich hatte allerdings die Möglichkeit, meine Kleidung im Flur zu verstauen und den anfänglichen Schock machten die Kochkünste meines Gastvaters wieder wett. Mein erstes „Dinner“ mit der englischen Gastfamilie bestand nicht etwa wie befürchtet aus Bohnen, „Blackpudding“ und Braten mit Pfefferminzsoße, nein: Auf dem Tisch stand eine riesige Platte angerichtet mit „Couscous“ und Gemüse. Es schmeckte vorzüglich, womit neben dem schlechten Wetter auch das Gerücht über schlechtes Essen bereits nach wenigen Tagen auf der Insel entkräftet war.
Bald darauf wurde ich von meinem kleinen Gastbruder, Ben, durch die Innenstadt Tonbridges geführt und bekam auch Tonbridge Castle zu sehen. Die Burg ist zwar halb Ruine, jedoch trotzdem wunderschön und an einem Fluss gelegen. Sie entspricht so ziemlich dem Landschaftsbild, welches ich von England hatte. Dahinter liegt ein herrlicher Park, in dem es von frechen Eichhörnchen nur so wimmelt (in meinen ersten Tagen hier hat mir doch tatsächlich eines der Tiere eine Bretzel geklaut!). Auch neben Park und Burg hat die Innenstadt eine Menge für mich zu bieten: Es gibt zahlreiche neu und secondhand Buchläden, die es zu durchstöbern gilt, außerdem eine große Bücherei, in der ich mich bereits an meinem zweiten Tag anmeldete und eine Menge Cafes und Restaurants (inklusive Starbucks, Subway und McDonald’s) sorgen für das leibliche Wohl wenn man mit Freunden unterwegs ist. Wie ich etwas später herausfand gibt es auch einen Kodakladen, in dem ich meine Werke für „Photography“ ausdrucken kann.
Das Haus meiner Gastfamilie liegt zu Fuß etwa 20 Minuten von der Einkaufsstraße und 15 Minuten von meiner neuen Schule, der Hillview School for Girls, entfernt. Wie der Name schon sagt, liegt diese auf einem Hügel und die Aussicht ist wahrlich fantastisch: Man schaut über die Häuser der Stadt hinweg hinunter in ein Tal voller Felder und Wäldchen.
Was der Name außerdem verrät, ist, dass es sich um eine Mädchenschule handelt. Aus diesem Grund war ich reichlich verwirrt, als ich an meinem ersten Schultag, dem ich voller Vorfreude und Aufregung entgegengesehen hatte, eine Gruppe von Jungen durch das Gebäude schlendern sah. Auf meine Frage hin erklärte mir ein Mädchen, dass die „Sixth Form“ an dieser Schule gemischt sei. So wie das „A Level“ das englische Abitur ist, entspricht die „Sixth Form“ in etwa der Oberstufe in Deutschland, wobei sie nur die Stufen zwölf und dreizehn beinhaltet. Anders als die jüngeren Schüler tragen die „Sixth Former“ in der Regel keine Uniformen mehr. Dafür müssen die meisten- je nachdem auf welche Schule sie gehen- einen „Dresscode“ einhalten, der beispielsweise besagt, das Anzüge und Kostüme in grau oder schwarz getragen werden müssen. Glücklicherweise muss ich solch eine Vorschrift nicht befolgen und kann so zur Schule gehen, wie ich es auch in Deutschland getan hätte.
Obwohl ich in Deutschland erst in die elfte Klasse gegangen wäre, besuche ich hier schon Jahrgangsstufe zwölf. Da die Kinder in England bereits mit vier Jahren eingeschult werden, bin ich allerdings trotzdem älter als all meine Klassenkameraden und werde immer mit ganz großen Augen angeschaut, wenn ich erzähle, dass ich schon meinen Führerschein habe. Auch die Tatsache, dass Jugendliche in Deutschland bereits mit sechzehn Jahren Bier und Wein trinken dürfen, löst bei den Engländern, die bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr keinen Alkohol konsumieren dürfen, großes Erstaunen aus.
Zu meinem Glück kann man während des ersten Monats problemlos seine Fächer um wählen und Kurse wechseln, sodass ich am Ende „Drama“ durch „Maths“, welches ich zuvor hatte streichen müssen, ersetzen konnte. Hier ein Wort zu meinen Fächern.
Maths: Der englische Matheunterricht unterscheidet sich nur durch einige Kleinigkeiten von dem in Deutschland. Wie alle anderen Fächer an meine Schule werden die Schüler von zwei Lehrern in unterschiedlichen Räumen unterrichtet, die unabhängig voneinander Hausaufgaben aufgeben. Der größte Teil der Stunde, die übrigens 120 Minuten umfasst, wird mit einer interaktiven Powerpointpräsentation ausgefüllt. Während der restlichen Zeit rechnen die Schüler Aufgaben aus ihrem Buch. Es wird übrigens nicht erwartet, dass man sein eigenes Material mitbringt. Kariertes Papier, Taschenrechner und Lineale werden von der Schule zur Verfügung gestellt.
English (Language over Literature): Um meine Englischkenntnisse besser erweitern zu können, habe ich nicht englische Literatur sondern Englische Sprache und Literatur gewählt. Anders als erwartet handelt es sich dabei jedoch nicht wirklich um ein einziges Fach. Sprache und Literatur sind strikt getrennt und werden abwechselnd von einer Englischlehrerin und einer Literaturlehrerin unterrichtet. Im Grunde genommen haben die beiden Bereiche rein gar nichts miteinander zu tun, da sich noch nicht einmal aufeinander aufbauen. Auch hier kommen einige Powerpointpräsentationen zum Einsatz; oft werden auch die Schullaptops zur Internetrecherche zu Hilfe genommen. In „Language“ beschäftigen wir uns zurzeit mit Konversation, das Thema in „Literature“ lautet Märchen.
Media Studies: In diesem Fach befasst man sich insbesondere mit Film- und Printmedien. Es wird einiges analysiert, wie zum Beispiel Filmtrailer, Fernsehprogramme, Magazincover und Filmposter. Dass dabei eine Menge an „Terminology“ (Fachausdrücken) angewendet werden muss, macht es besonders für mich zu einem der schwierigsten Fächer. Begriffe wie „Cinematography“, „Iconography“ und „Socio-Demographics“ beispielsweise sind mir auch nach einigen Wochen noch ein Rätsel. Doch nicht nur deswegen ist Media Studies ein unglaublich arbeitsaufwendiges Fach. Es fallen außerdem jede Woche ein bis zwei Aufsätze über das gerade Erlernte an, in denen wir nicht nur die Medien selbst sondern auch die Institutionen und die Zielgruppe analysieren müssen. Die Bewertung umfasst eine Spannweite von 0-12 Punkten; über 7 Punkte komme ich persönlich aber nur selten heraus. Nichtsdestotrotz ist das Fach äußerst interessant und lehrreich, das Analysieren macht Spaß und hilft einem, die Tricks Hollywoods zu durchschauen.
Photography: Fotografie hat sich während meiner ersten Wochen an der Hillview School for Girls zu meinem Lieblingsfach entwickelt. Das liegt nicht nur daran, dass ich begeisterte Hobbyfotografin bin, sondern auch am Unterrichtsinhalt, der eine Menge Praxis einschließt, und nicht zuletzt an der Lehrerin. Mrs. Hepburne Scott hat sich von Anfang an rührend um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich alles verstehe, denn auch Fotografie enthält eine Menge Fachausdrücke. Im Gegensatz zu meinen anderen Kursen, die in etwa 30 Schüler umfassen, besteht die Fotografieklasse nur aus zehn Schülern. Somit ist die Gruppe recht überschaubar und wir können oft in den „Darkroom“, um Filme und Bilder zu entwickeln, die wir zuvor selbst aufgenommen haben. Wir haben sogar schon einen Ausflug nach London gemacht und „Kew Garden“ besichtigt. Kew Garden ist ein riesiger Park voller überdimensionaler Gewächshäuser, von denen eines Tropenpflanzen beherbergt. Dementsprechend erlebt man einen wahren Schockklimawandel wenn man es betritt. Außerdem gibt es in Kew Garden einige Aquarien und Terrarien, die die Atmosphäre unterstützen. Ich habe sowohl Fotos mit meiner neuen eigens für das Fach angeschafften Digitalkamera als auch mit einer Schulfilmkamera aufgenommen. Der Film ist bereits entwickelt und bald mache ich mich daran, die Bilder auf Fotopapier zu bringen.
Tagesausflüge wie der nach Kew Garden sind anscheinend keine Seltenheit, denn bald schon steht ein Theaterausflug an und im Frühling nächsten Jahres werde ich mit meiner Media Studies Klasse wahrscheinlich ein Wochenende in Paris verbringen, worauf ich sehr gespannt bin. Der einzige Nachteil sind die Kosten: Pro Tagesausflug 15 Pfund, rund 300 Pfund für den Paristrip, außerdem Materialkosten und die neue Kamera für Fotographie und da ich mich dazu entschieden habe, die Arbeiten mitzuschreiben, musste ich zusätzlich 30 Pfund für jedes Exam bezahlen. Da fließt einem das Geld nur so davon, aber es lohnt sich!
Alles in allem unterscheidet sich die Schule in England sehr von der in Deutschland und ich bin froh, dass ich dieses völlig neue Schulsystem weiter erforschen kann. Bei meiner Gastfamilie habe ich mich inzwischen recht gut eingelebt und in Tonbridge finde ich mich ohne Probleme zurecht. Die Nähe zu London habe ich auch schon das ein oder andere Mal ausgenutzt, wovon ich in späteren Beiträgen ausführlicher berichten werde.