Auf Richtung Osten

Freitag, der 14.9.: Ich stehe an der Bushaltestelle des Westausgangs des Hauptbahnhofs, an dem ich schon öfters beim Vorbeifahren mit schweren Koffern bepackte Menschen gesehen habe. Leute, die diese Koffer in einen Bus mit polnischem Kennzeichen wuchten lassen und nach Hause zurückkehren oder Verwandte besuchen. Jetzt bin ich selbst eine von ihnen (auch wenn ich mich von anderen Passagieren durch einen Mangel an Polnisch-Kenntnissen unterscheide), suche unter dem Dach der Haltestelle Schutz vor dem Regen und hoffe, dass ich nicht irgendwie das falsche Ticket ausgedruckt habe, von einer nicht existierenden Reisegesellschaft betrogen wurde oder einfach zu blöd war, die Abreisezeit auf meiner Fahrkarte richtig zu lesen. Man weiß nie. In solchen Situationen traue ich mir die größten Missgeschicke zu.

Doch einige Zeit, nachdem ich mich von meinen Großeltern verabschiedet habe, die mich netterweise zum Bahnhof gebracht hatten, kommt tatsächlich ein Bus. Erleichtert nehme ich zur Kenntnis, dass der Busfahrer bestätigt, er fahre nach Olsztyn. Wie peinlich wäre es schließlich, müsste ich meiner Aufnahmeorganisation Borussia am Samstag mitteilen, dass ich leider in Breslau gelandet sei!

Obwohl mich drei auf polnische Art „synchronisierte“ Filme vom Lesen abhalten und ich frühmorgens umsteigen muss, verläuft die Reise recht angenehm. Auch die Herausforderung, Samstagmittag den Bus in der richtigen Stadt wieder zu verlassen, bewältige ich meisterhaft. Ich werde also von Błażej, der bei der Borussia für uns Freiwilligen zuständig ist, eingesammelt und in Helenas und meine neue Wohnung gebracht.

Trautes neues Heim

Eine Woche ist es jetzt her, dass ich das Zimmer bezogen habe, das für das kommende Jahr mein zu Hause sein soll. Es liegt in einem Internat für Berufsschüler und ist hell und geräumig. Zwar haben wir ein Doppelzimmer, doch Die Gemeinschaftsduschen auf dem Flur müssen wir zum Glück nicht benutzen. Stattdessen teilen uns ein eigenes hübsches Bad und eine Küche mit unserer Nachbarin sowie ihren beiden Söhnen irgendwo im Alter zwischen vier und acht Jahren. Wieso sie in einem Internat, beziehungsweise einer Art  Wohnheim lebt, wissen wir auch nicht. Sie ist wohl etwas wie eine Sozialarbeiterin. Außerdem sind die kleinen Appartements, von denen wir eines bewohnen, normalerweise „VIPs“ vorbehalten.

Und meine Arbeit

Meine bisherigen Arbeitstage waren alle super. Ich habe geholfen, Pferde von einer Weide auf die andere zu treiben, war bei Töpferkursen dabei, bin mehrmals auf einer Kutsche mitgefahren, die wir (die andere deutsche Freiwillige Hannah, einige Mitarbeiterinnen und ich) später auch waschen mussten, habe Pferde geputzt, Zaumzeug eingefettet und habe angefangen, ein Buch von 1893 abzutippen. Wozu letzteres gut sein soll? Es ist soll aus dem Deutschen ins Polnische übersetzt werden, dafür muss es digital und in moderner Schrift vorliegen. Das Thema sind übrigens die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Preußen.

Eigentlich ist es ganz interessant, ich komme mir seeehhhr gelehrig vor, Informationen über die Eigenheiten der Kirchen des Oberlandes, etc. zu übertragen. Obwohl man bei dieser Betätigung irgendwann einen steifen Nacken bekommt. Wahrscheinlich wird mir das Tippen im Winter bald zu den Ohren heraushängen, es wartet nämlich noch ein Stapel Bücher, der irgendwann abgetippt werden soll.

Solange das Thermometer noch keine Minuswerte anzeigt, bin ich allerdings entschlossen, die Arbeit an der frischen Luft und vor allem die Abwechslung zu genießen.

Morgen beispielsweise wird sicherlich ein spannender Tag, denn es findet das alljährliche Erntefest im Museum statt. Mit meiner Mentorin Monika werde ich in masurischer Tracht Brot backen. Außerdem soll ich dem Kaltblüter Olka Zöpfe flechten, das morgen eine Kutsche voller Musikanten ziehen muss. Das ist auch der Grund, weshalb Hannah und ich in der letzten Woche fast jeden Tag  auf dem Wagen mitfahren durften: Olka musste sich an laute Passagiere gewöhnen. Daher Tomeks Aufgabenstellung an uns: „Los, Hanja und Franja, singt irgendetwas! Lacht und schreit mal.“

Was man als Pferd nicht so alles über sich ergehen lassen muss. Oder als Freiwillige. 😉


Über die Autorin/den Autor:  Nachdem ich dieses Jahr mein Abitur am Märkischen Gymnasium gemacht habe, beginne ich diesen Sommer einen Freiwilligendienst in einem Freilichtmuseum in Olsztynek, einem Ort im Nordosten Polens neben Olsztyn (dem ehemaligen Allenstein). Entsendeorganisation ist Pax Christi. Keine Sekte, sondern eine internationale Friedensbewegung. Aus Versöhnungsbestrebungen nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, entsendet sie seit 1992 junge Menschen nach Osteuropa. http://pax-christi-aachen.kibac.de/seiten/index.html http://muzeumolsztynek.com.pl Alle Beiträge der Autorin/des Autors: